Begründung und Wirksamkeit
Der Paradigmenstreit
Gegenwärtig stehen sich in der Suchthilfe und Diskussion zwei konkurrierende
Modelle gegenüber: Das seit langem dominierende Abstinenzparadigma und das
neuerlich (wieder) vermehrt diskutierte Kontrollparadigma. -
Nach jahrzehntelanger Dominanz des sog. Abstinenzparadigmas ist vor allem seine zentrale Annahme (s.u.), dass stoffgebundene Abhängigkeit nur durch völligen und dauerhaften Verzicht auf eben jenen Stoff wirksam therapiert werden kann, in den letzten Jahren massiv in Frage gestellt worden. Es ist, wie seine Kritiker behaupten, im Laufe der Zeit zum Dogma erstarrt. Aktuell läuft eine - z.T. auch außerhalb der Fachöffentlichkeit ausgetragene - Auseinandersetzung um die Möglichkeiten und Grenzen eines kontrollierten Drogenkonsums. Kontrollierter Konsum war zuletzt z.B. Thema der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Suchtpsychologie (DGSPS) in 2001, er war Schwerpunktthema der Hamburger Suchttherapietage 2002 und es gab Themenhefte der Zeitschriften Sucht (2001) sowie Suchttherapie (2002). Vertreter des Kontrollansatzes fordern, angesichts wissenschaftlicher Evidenzen neben Abstinenz auch kontrollierten Konsum als Zieloption von Interventionen zuzulassen. Die Diskussion wurde zunächst am Thema 'Alkohol' geführt, erreichte dann die illegalen Drogen und hat sich nun am Rauchen entzündet.
Abstinenzparadigma
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zentrale Annahmen -
- Wiederholter Nikotinkonsum macht mit großer Wahrscheinlichkeit abhängig / süchtig.
- Alle Nikotinabhängigen leiden unter völligem Kontrollverlust.
- Nikotinabhängigen ist eine nennenswerte Kontrolle über ihr Rauchverhalten nie mehr möglich.
- Nikotinabhängige können nur mit der Zielrichtung 'Abstinenz' wirksam therapiert werden.
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Folgen -
- geringer Erreichungsgrad, geringe Inanspruchnahme von abstinenzorientierter Hilfsangeboten (präventiver wie therapeutischer): Raucherquote seit mehreren Jahren stabil zu hoch, keine Verbesserungen mehr bei Prävention und Aufhören (Hughes, 2000): z.B. 2001 Raucheranteil von 39% bei den Männern und 31% bei den Frauen; bei 18-19 jährigen Frauen sogar ca. 50%.
- unbefriedigende Erfolgs- und hohe Rückfallraten nach Abstinenztherapie: selbst bei derzeit wirksamsten Therapien ca. 80% Rückfälle nach einem Jahr (der erfolgreichen Beender, ohne Abbrecher!)
- Unbehagen mit bevormundenden Strukturen - Kolte & Schmidt-Semisch (2002, 649) sprechen in dem Zusammenhang von "repressiven, paternalistischen" Strukturen.
Kontrollparadigma
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zentrale Annahmen -
- Abhängigkeit und Kontrolle sind immer graduell ausgeprägt (Pole einer Achse).
- Veränderungen auf dieser Achse sind (auch "Abhängigen") nicht nur in einer Richtung möglich.
- Kontrolle ist prinzipiell erlernbar, d.h. jede/r kann seine/ihre Kontrolle erweitern.
- Das Ausmaß der dabei erreichbaren Kontrolle ist nicht durch den anfänglichen Abhängigkeitsgrad determiniert.
- Zieloffenheit ist geboten (aus ethischen und pragmatischen Gründen).
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Folgen -
- Die epidemiologischen Folgen einer Umsetzung des Kontrollparadigmas sind derzeit noch nicht abschätzbar, da die Chance einer weitflächigen Erprobung (unter der Herrschaft des Abstinenzparadigmas) bislang noch nicht bestand. Systematische Erprobungen in Form von experimentellen und Therapiestudien (s.u. unter 'Wirksamkeit') lassen jedoch die Erwartung zu, dass unter einem Kontrollparadigma mindestens gleich gute Ergebnisse zu erzielen wären wie unter reiner Abstinenzorientierung. Ein völliger Rauchstopp würde im Kontrollmodell als Sonderfall integriert sein, der sich lediglich dadurch von anderen unterscheidet, dass als persönliches Kontrollziel 'Abstinenz' angesteuert wird.